Der Blick des Kunst- und Architekturhistorikers auf die Geschichte der Architektur fördert regelmäßig den Begriff der „Schule“ zu Tage. Dies scheint insbesondere für Deutschland, aber auch für andere europäische Länder zu gelten. Das Phänomen der „Schule“ ist sowohl bei Architekten als auch bei anderen Berufsgruppen anzutreffen, die hinsichtlich ihres Lehrer-Schüler-Verhältnisses gerne in heldenhafter Verehrung, zuweilen aber auch in kritischer Selbstbespiegelung zurück blicken. Woran sich dieser Schulbegriff festmachen lässt, ist jedoch nicht immer klar zu definieren. Mit der „Architekturschule“ im Besonderen beschäftigte sich das Institut für Architekturgeschichte (ifag) an der Universität Stuttgart aus Anlass seines 100-jährigen Bestehens auf einer im Juli 2011 ausgerichteten internationalen Tagung mit dem Titel „Architekturschulen – Programm, Pragmatik, Propaganda“. Deren Ergebnisse liegen nun in einem von Kerstin Renz und Klaus Jan Philipp herausgegebenen und reizvoll aufgemachten Tagungsband vor.
In solch einer umfassenden Form wurde das Thema bisher noch nicht angegangen. Und es wundert nicht, dass die Tagung an der für die Architekturlehre in Deutschland bedeutsamen Fakultät in Stuttgart ausgerichtet wurde, stand sie doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts exemplarisch für ein enges und dafür berühmtes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Auf die sogenannte „Stuttgarter Schule“ wurde während der Tagung und im vorliegenden Tagungsband denn auch ein besonderer Schwerpunkt gelegt. Gemeint sind vor allem deren Vertreter Paul Bonatz, Paul Schmitthenner und Heinz Wetzel sowie weitere Lehrer, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beispielhaft für jene epochemachende „Stuttgarter Schule“ standen.
In ihrem Vorwort halten die Herausgeber fest, dass die Herkunft eines Architekten im 20. Jahrhundert eine äußerst bedeutsame Rolle bei der Arbeitssuche spielte, und dies meinte oftmals „auch den Ort der Ausbildung“ (9). Bis in die Gegenwart scheint die „Schule“ eine „nicht zu unterschätzende arbeitsmarktpolitische Komponente“ (9) in der Architektur zu sein. Die Herausgeber versuchen den spannenden Begriff der „Schule“ vorab assoziativ einzukreisen. Dazu gehören Begriffe wie „Disziplin und Struktur ebenso wie Lernen und Gemeinschaft“ (11). Doch enthalten sie sich bewusst einer Definition des Schulbegriffs, galt es doch zunächst zu analysieren, „wie und warum dieser Terminus im Kontext der Architekturlehre“ (12) Anwendung fand. Hinter die Schlagworte des Untertitels „Programm, Pragmatik, Propaganda“ – ergänzen ließe sich „Personen“ –, wollen die Herausgeber jeweils Fragezeichen gesetzt sehen, die die Gründe zur Konstituierung einer „Schule“ hinterfragen sollen.
Die größtenteils deutschsprachige Forschungsliteratur über Architekturschulen in Europa zeigt sich bisher noch recht übersichtlich, erkennbar sind jedoch drei Hauptstränge: „die quantitativ dominierende monographische Forschung zu Architekten, die zugleich als Lehrende tätig waren; die Forschung zur Geschichte der (akademischen) Ausbildungsinstitutionen und die Forschung zur Entwurfs- und Gestaltungslehre“ (12). Für die Tagung wurde der Untersuchungsschwerpunkt ganz bewusst auf die traditionsorientierte „Stuttgarter Schule“ gelegt, nicht jedoch auf ihren Gegenpart: das Weimarer und später Dessauer Bauhaus, über das sich in diesem Band kein Beitrag finden lässt. Nichtsdestotrotz „schwebt“ das Bauhaus nach Aussage der Herausgeber über allen Beiträgen (13). Diese umspannen einen Zeitrahmen von rund 200 Jahren, beginnend mit der bereits seit den 1850er Jahren so bezeichneten „Schinkel-Schule“, wie im Beitrag von Elke Katharina Wittich herausgearbeitet wird. Die jüngeren Strömungen reichen bis in die Gegenwart, bis hin zu heute noch aktiven Architekten wie Christoph Mäckler oder das Büro gmp.
Die ersten beiden Beiträge von Frank R. Werner und Katja Bernhardt leiten in das Thema ein. Werner spricht in seinem Beitrag „Prägungen, epigonale Netzwerke oder Verweigerungshaltungen“ von schulbildenden Architekten, deren Nachfolge innerhalb einer Architekturschule „bis zu einem gewissen Grad immer etwas mit Nachahmung zu tun“ (19) hatte. Werner nähert sich dem Problem des positiv konnotierten „Imitierens“ und negativ besetzten „Kopierens“ anhand bekannter Architekturschulen und -lehrer und kommt abschließend zu dem Urteil, dass Architekturschulen „eine relativ zwiespältige Angelegenheit“ seien, die oftmals mit „Übervätern“ und „Epigonen“ zu kämpfen haben. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass sich „Architekturschulen, gleich welcher Provenienz, auch künftig als höchst ergiebige, weil gesellschaftlich wie kulturgeschichtlich aufschlussreiche Terrains architekturhistorischer Forschung erweisen“ (27).
In ihrem Beitrag „‘Schule‘ – ein überholter Ordnungsbegriff mit Potenzial“ beschäftigt sich Katja Bernhardt mit dem Schulbegriff innerhalb der Architekturdisziplin, ohne diesen zu definieren, geschweige denn, ein „allgemeingültiges Modell für einen Umgang mit ihm“ (29) entwerfen zu wollen. In ihrer „historiographischen Anamnese“ arbeitet sie die ihrer Meinung nach wichtigsten Aspekte zur Charakterisierung einer Schule heraus. Dazu gehört das Ziel einer „direkten und intentionalen Wissensvermittlung und -tradierung“, eine „gemeinsame Auffassung von Architektur“ und das „unmittelbare und institutionalisierte Lehrer-Schüler-Verhältnis, welches Wissensvermittlung und Traditionsbildung sichert und lenkt“ (31f.). In einer „heuristischen Wendung“ kommt Bernhardt schließlich zu einem Analysemodell für die Untersuchung von Architekturschulen unter Anwendung dreier Strukturmerkmale: „Institution“, „Auffassung“ und „Vermittlung“ sowie zweier Querschnittsthemen: „Sichtbarkeit“ und „Verortung“ (34f.). Diese machen es ihrer Meinung nach möglich, sich dem Thema „Architekturschule“ zu nähern.
Der darauf folgende Teil des Aufsatzbandes beinhaltet vier spezifische Beiträge zur „Stuttgarter Schule“ aus der Feder von Klaus Jan Philipp, Kerstin Renz, Mark Escherich und Kerstin Zaschke und einen fünften, allgemeinen Beitrag zur Geschichte der „Stuttgarter Schule“. Gerade Philipp macht deutlich, dass der „Stuttgarter Schule“ und Paul Bonatz, ebenso wie seinerzeit dem Bauhaus und Walter Gropius, durchaus an einer Mythenbildung gelegen war (51). Renz´ Beitrag über den Neuanfang in den Nachkriegsjahren zeigt die Suche nach Orientierung anhand der Person Günter Wilhelms exemplarisch auf. Mark Escherich überrascht in seinem Beitrag mit der Erkenntnis, dass es in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, eine Rezeption der „Stuttgarter Schule“, gegeben hat.
Die anschließenden Beiträge reichen von der Weinbrenner-Schule und der Berliner Schule des 19. Jahrhunderts bis in das 20. Jahrhundert, beginnend mit der Braunschweiger Schule. Dort lassen sich Kontinuitätslinien bis in das 19. Jahrhundert nachweisen, wie die Autoren Simon Paulus und Ulrich Knufinke in ihrem Beitrag eingehend erläutern. Mit den Beiträgen von Jennifer Meyer, Inaki Bergera und Bernita Le Gerrette weitet sich der Blick auf Architekturschulen in Delft, Spanien (Madrid vs. Barcelona) und Mexiko, wo der deutschstämmige Architekt Max Cetto zu einer angesehenen Lehrerpersönlichkeit heranreifte. Abschließend betrachten Katrin Lichtenstein mit ihrem Beitrag über das „Dortmunder Modell Bauwesen“ und Jasper Cepl in seinem Artikel „Oswald Mathias Ungers und seine Schule“ jüngste Entwicklungen in der Architekturlehre und der daraus resultierenden Schulwirkung.
Von Beginn stellt es sich jedoch als ein Manko heraus, dass das Bauhaus weder in einem Tagungsbeitrag noch im Tagungsband explizit auftaucht, lässt sich doch die „Stuttgarter Schule“ durch ihre trennscharfe Abgrenzung von der Konkurrenz aus Weimar bzw. Dessau dadurch besser verstehen. Dass Bauhaus fungierte als Architekturschule und Wirkungsstätte charismatischer Lehrer gewissermaßen als ein Gegenentwurf zur „Stuttgarter Schule“. Dies nicht zu thematisieren, nimmt dem vorliegenden Tagungsband auch ein wenig von der Spannung, die sich aus dieser Konkurrenz ergeben hätte. Anhänger des Bauhauses und seiner Lehrer fanden sich zudem auch außerhalb dieser Institution, was der Diskussion um den Begriff der „Architekturschule“ und seine Ausweitung über den personellen und geografischen Kontext hinaus sicherlich weitere Impulse verliehen hätte.
Wenn die Herausgeber, wie sie am Ende ihres Vorworts schreiben, die weitere Beschäftigung mit dem Thema auf die programmatischen Lehrgebäude der Architekturschulen ausweiten wollen, werden sie nicht am Bauhaus vorbei kommen. Der Tagungsband aber bietet indes genügend Anregungen, sich mit dem Phänomen der „Architekturschule“ intensiver als bisher auseinander zu setzen, denn es handelt sich um ein vielgestaltiges und ergiebiges Forschungsfeld.
Philipp, Klaus Jan; Renz, Kerstin (Hrsg.): Architekturschulen. Programm, Pragmatik, Propaganda ; [Publikation des Wissenschaftlichen Symposiums Architekturschulen - Programm, Pragmatik, Propaganda (8. - 9. Juli 2011), Universität Stuttgart, Institut für Architekturgeschichte], Tübingen [u.a.]: Ernst Wasmuth Verlag GmbH & Co. Tübingen · Berlin 2012
ISBN-10: 3-8030-0750-X, 293 S., Gb. : EUR 45.00
Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Philipp, Klaus Jan; Renz, Kerstin (Hrsg.): Architekturschulen. Programm, Pragmatik, Propaganda ; [Publikation des Wissenschaftlichen Symposiums Architekturschulen - Programm, Pragmatik, Propaganda (8. - 9. Juli 2011), Universität Stuttgart, Institut für Architekturgeschichte], Tübingen [u.a.] 2012. In: ArtHist.net, 19.10.2013. Letzter Zugriff 01.11.2024. <https://arthist.net/reviews/6206>.
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